Sinnvolles Erweitern von unvollständigen Funden

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Nemi Norison

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am Beispiel des Taschenbügels HbH.119.003 aus dem Hafen von Haithabu Manchmal sind Funde aus Grabungen nicht vollständig erhalten. Die Beschädigungen können zu Gebrauchszeiten entstanden sein und ein Grund für die Entsorgung sein (z.B. Löffel Funde Konstanz), durch die Verweilzeit im Boden, durch unsachgemäße Grabung/Konservierung (Raubgrabungen usw.), durch Beschädigung beim bergen bei zu fragilen Fundstücken, oder auch durch nicht rechtzeitige Konservieren, so das beim Auswerten der Funde diese nicht mehr komplett waren (Notgrabungen usw.). Das führt dazu das Zeichnungen/Photographien der Funde nicht mehr vollständig sind. Bei Zeichnungen solcher Funde habe ich bisher in Publikationen zwei Arten gesehen. Entweder man zeichnet den Fund so wie er ist (also mit Beschädigungen), oder aber der Sachbearbeiter erweitert den Fund anhand von Spiegelungen an Symmetrieachsen oder durch das aufgreifen vorhandener Linien sinngemäß die Erweitert werden. Solche Erweiterungen wurden bei den mir bekannten Fällen durch gestrichelte Linien ausgeführt. In der Publikation „Die Holzfunde von Haithabu“ wird im Regelfall der Fund ohne Erweiterungen gezeichnet. Wenn man jedoch versucht nach so einer Fundzeichnung einen gebrauchsfähigen Gegenstand fertigen will, kommt man nicht umhin den Gegenstand/Zeichnung erweitern. Jedoch ist dieses erweitern eine recht knifflige Sache, wie weit kann man dabei erweitern und sich immer noch auf den Fund berufen? Ich für meinen Teil versuche wenn ich erweitere Symmetrien zu nutzen oder aber vorhandene Linien/Formfluß aufzugreifen. Als Beispiel nutze ich hier den Taschenbügel HbH.119.003 aus dem Hafen. Hierbei handelt es sich um den kleinsten der abgebildeten Taschenbügel an dem scheinbar im mittleren Bereich Teile, voraussichtlich Bögen wenn man den gängigen Adaptionen glaubt, abgebrochen sind. Die Erweiterung zu diesen Bögen halte ich selbst auch für am wahrscheinlichsten. Im Folgenden versuche ich nahe zu legen warum. Hierbei handelt es sich um meine Interpretation der Fundzeichnung, bei der ich annehme das die an diesen Stellen wirklich um Fehlstellen handelt. Bei Betrachtung der des Bügels ohne Erweiterung wirken die Aussparungen wie Schwachstellen an denen der Bügel leicht brechen könnten. Die Materialhöhe des Bügels würde an diesen Stellen ohne Erweiterung um ca. 76% reduziert. Die Höhenreduzierung bei den drei weiteren abgebildeten Bügeln überschreitet die 39% nicht (HbH.119.014 : 39%, HbH.119.013 : 32% und HbH.119.013 : 19%), dadurch wirkt die drastische Reduzierung am HbH.119.003 außergewöhnlich und macht meiner Meinung nach eine Erweiterung wahrscheinlicher. In der abgedruckten Zeichnung kann man auf der linken Seite den vermeintlichen Ansatz eines Bogens erkennen. Um den Formfluß, die Stabilität des Bügels HbH.119.003 zu erhalten ergibt es, meiner Meinung nach, Sinn den Bügel an diesen Stellen durch Bögen zu erweitern. Wie diese Bögen (wenn sie wirklich vorhanden waren) wirklich ausgesehen haben ist schwer zu sagen. In der Skizze habe ich mal zwei mögliche Bögen in Rot und in Blau angedeutet. Einmal einen rundlichen Bogen (linke Seite) und einen Dachartigeren Bogen (rechte Seite) bei der ich die Form der kleinen Öffnung in der Mitte versucht habe aufzugreifen. Beides ist Interpretation. Und wenn man über die Fundlage nachdenkt ist auch das paarige nutzen dieser Bügel auch nur eine Interpretation die sich darauf stützt das von 14 in Haithabu gefunden Bügeln 2 vermutlich zusammen gehören und das es im sämischen Bereich Bügeltaschen gibt bei denen jeweils zwei Bügel genutzt werden.
 
Diese Frage ist sehr interessant. Deine Gedankengänge kann ich voll und ganz nachvollziehen. Meine Meinung dazu: Das Wahrscheinlichste wird der Wirklichkeit am nächsten kommen, aber wohl nur zufällig, wenn überhaupt, völlig dem Original entsprechen. Wichtig bei der Einschätzung sind imho wenigstens 3 Faktoren: 1. Die Funktionalität. Kann ein Gegenstand, so wie ich ihn rekonstruieren möchte, überhaupt noch hergestellt bzw. benutzt werden? Wenn ein Griff, ein henkel zu klein oder zu klobig ist, ist dies nicht der Fall; kann das Material nicht entsprechend fein ausgearbeitet werden, kann man es nicht herstellen (Metall lässt sich filigraner bearbeiten als Holz) etc. 2. Der Stil. Man hat ja immer Vergleichsfunde, an denen man Muster, Formen etc. sehen kann, wie sie für die entsprechende Zeit oder Region typisch waren. Wenn ein bestimmtes Ornament, eine bestimmte Form nur in zusammenhang mit wenigen anderen Ornamenten und Formen auftritt, scheiden andere Formen aus, auch wenn diese Formen an sich in Zusammenhang mit anderen Gegenständen, Ornamenten oder Materialien vorkamen. 3. Die Häufigkeit. Je häufiger bestimmte Gegenstände in Gebrauch waren, umso wahrscheinlicher ist, dass es da eine Art "Serien"- vielleicht sogar "Massenprooduktion" gab, wie es zB für gewisse Zeiten für Tongeschirr nachgewiesen ist. Wenn ein gegenstand aber nicht sehr häufig auftaucht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jedes gefertigte Stück ein Einzelstück war und dann hat man bei Berücksichtigung der Punkte 1. und 2. die größtmögliche Näherung an das Objekt geschafft, finde ich. Das könnte auch die Frage nach den paarigen Taschenbügeln beantworten. Ich bin ja eher Schultertaschen-Trägerin ^^ und habs mit normalen Handtaschen nicht so. Aber macht eine Tasche, die man in der Hand trägt - und wie zu einer Handtasche gehörig sehen die Taschenbügel für mich aus - mit nur einem einzigen Bügel überhaupt Sinn? Bei nur einem Bügel müsste man eine Taschenklappe bei jedem Öffnen und Schließen unter dem Bügel durchwurschteln, um den Tascheninhalt vor Herauspurzeln oder unerlaubtem Zugriff zu sichern. Und das erscheint mir doch sehr unkomfortabel, so dass ich nach Punkt 1 die Zwei-Bügel-These für die wahrscheinlichere halte.
 
Das mit den 2 Bügeln ist nur ein Hinweis am Rande, primär geht es in dem Text um das Erweitern der Zeichnung des Bügels HbH.119.003. Dabei nicht um das erweitern auf zwei Bügel sondern das die vorraussichtlich abgebrochenen Bögen durch erweiterung wieder dazugeführt wurden. Was deine 3 Fragen angeht helfen die in diesem Fall nur bedingt weiter. Dennoch versuche ich sie mal zu beantworten.
  • 1. Frage geht am Problem völlig vorbei. Alle abgebildeten Haithabu Taschenbügel lassen sich einfach herstellen. Und rein technisch gesehen macht es dabei beim Bügel HbH.119.003 auch keinen großen fertigungstechnischen Unterschied ob ich die Bögen ranmache oder nicht.
  • 2. Is schon näher dran am Problem hilft aber auch nicht wirklich weiter. Ich kenne neben den in Holzfunde Haithabu abgebildeten 4 Typen Haithabu Bügeln den dort abgebildeten sämischen Vergleichsfund noch eien weiteren vorraussichtlichen Taschenbügel aus Schweden. In der Form haben sie abseits der Grundlegenden Funktionsmerkmale keine wirklichen Gemeinsamkeiten.
  • 3. Hilft auch nicht wirklich weiter. In Haithabu wurden insgesammt 14 Bügel gefunden, zwei davon werden als ein paar betrachtet. Die Größen sind abseits dessen unterschiedlich kleinste Bügel ist ca. 18 cm breit der größte Bügel ca. 52 cm ).
 
Wir haben aneinander vorbeigeredet. Aber sowas soll ja vorkommen. Meine Fragen waren eigentlich keine Fragen speziell an dich, sondern allgemeine Fragen, die man sich bei der Rekonstruktion von Funden stellen sollte. Also ist es möglich, ist es stilistisch möglich und gibt es Funde, die GEGEN die gewählte Form der Rekonstruktion sprechen. Beide deiner Bügelvarianten sind technisch machbar, beide Bügelvarianten scheinen stilistisch zu stimmen und ferner sind die gefundenen Bügel alle derart unterschiedlich, dass man kaum oder keine gemeinsamen Merkmale ableiten oder andere Merkmale ausschließen kann. Das heißt für mich, dass wohl jeder Bügel nach dem Geschmack und den Vorstellungen des Kunden oder Handwerkskünstler angefertigt wurde. Wir können dann nur raten, wie der Bügel ursprünglich ausgesehen haben mag, aber es wird auf beide Arten - rund oder spitz - ein in sich stimmiger Bügel entstehen, den es mit einiger Wahrscheinlichkeit gegeben haben dürfte. Es ist ungefähr so, wie wenn ich einen Brief finde, der mit "Liebe Mam " beginnt und ich nicht weiß, ob es nun Mama oder Mami hieß. Beide Varianten sind möglich und in sich stimmig. Eine Rekonstruktion ergänzt ja immer Fehlendes und wenn das entsprechende Teil nicht doch noch irgendwann auftaucht, bleibt immer ein Rest der Ungewissheit. Dennoch kannst du dich immer noch auf den Fund berufen - und wenn es jemand ganz genau wissen will, darauf hinweisen, dass dieses oder jenes Teil fehlte und von dir aus diesen und jenen Überlegungen heraus als so und so aussehend angenommen wurde.
 
Grundsätzlich habe ich den Text eigentlich geschrieben um zu beschreiben wie ich beim Herstellen von Repliken (auch wenn es meist Löffel sind) vorgehe wenn Dinge fehlen. Da die Taschenbügel recht bekannt sind, habe ich die als Beispiel genutzt.
 
Ja, und ich finde, du gehst richtig und logisch vor. Man kann da viele beispiele anführen, das Vorgehen bleibt ja immer dasselbe, ob es ein Bügel oder eine Buddhastatue ist. Das Aufgreifen des Formenflusses oder das Erweitern von Symmetrien, das Nutzen logischer Muster (wie in den IQ-Tests "Welche Form setzt das Muster fort?") sind ja Standardmethoden. Man erreicht aber auch damit nur eine größtmögliche Wahrscheinlichkeit - genau werden wir es nie wissen. Und ich dachte, das war auch deine Frage, inwieweit du dich dann noch auf den Fund berufen kannst.
 
Wenn man davon ausgeht, dass das betreffende Stück gefunden wurde, weil es weggeworfen wurde, weil es kaputt gegangen ist, dann stellt sich natürlich auch die Frage, ob es kaputt wurde, weil es mangelhaft konstruiert wurde. Man rekonstruiert also vielleicht etwas, das auf Grund von Mängeln ausgesondert wurde und erhält somit auch keine Rekonstruktion eines gebrauchsfähigen Alltagsgegenstandes. Wenn ähnliche Gegenstände in größerer Anzahl in mehreren Formen gefunden wurden - so wie das bei den Taschenbügeln der Fall ist - ist diese Überlegung sicherlich von geringerer Tragweite als bei Funden mit wesentlich geringerer Häufigkeit. Wie etwa den Nadeldosen, die ich gerne anfertige, wo es nur zwei unvollständige mutmaßliche Funde gibt, bei denen die Funktionalität (Deckel und Verschluss des Deckels) erst noch neu erfunden werden muss. Bei deiner Ergänzung der abgebrochenen Teile der Taschenbügel würde ich von einer Rekonstruktion auf Fundbasis sprechen, bei meiner Gestaltung der Nadeldosen von einer Neukonstruktion mit Fundhintergrund und Möglichkeitscharakter.
 
Nachdem ich mich nun eingehender mit dem Orginal fefassen konnte und mir auch die Seiten angesehen habe die in man in dem Buch die Holzfunde von Haithabu nicht sehen kann, bin ich zu ein paar Schlüssen gekommen.
  • 1. Bei diesem Bügel ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit oben etwas abgebrochen (sprich die Stellen wo ich erweitert habe)
  • 2. Die angedeutete Linie in dem Buch Holzfunde von Haithabu welche an einer Stelle einen Bogen andeutet, findet sich am Orginal auf beiden Seiten und an allen Stellen wo neben dem Bogenansatz noch Material ist.
  • 3. Die Bögen sind leicht abgesetzt, sprich an ihnen ist das Material leicht dicker als am Rest.
  • 4. Aufgrund der Bögenansätze und den ansonsten eher Runden Formen ist für mich inzwischen die eher runde Form der Bögen die Wahrscheinlichere.
 

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