Disput über wissenschaftliche Methodik bei der Untersuchung von Geschlechterrollen in einer fremden Kultur

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Du über eine ähnliche These hatte Kaptorga in ihrem Podcast über unser Lieblings Birka Grab drüber berichtet und sie konnten für mich recht nachvollziehbar darlegen, dass Verhaltensweisen nicht vererbt werden...
Hast du zufällig den Link oder Titel dazu parat? Ein diesbezüglicher Kaptorga-Beitrag würde mich interessieren. In einer Gesellschaft können Denk- und Verhaltensmuster m.E. schon über viele Generationen hinweg vererbt werden (womit ich jetzt aber nicht auf die schwedischen Väter in Elternzeit anspielen will ;) ).
 
Birka Grab 581 - was verraten uns Grabbeigaben? Minute 37 rum. Aber ich denke der ganze Podcast wäre für dich interessant. Ich habs bei Patreon gehört, kann sein, dass es auch bei Youtube veröffentlicht worden ist.
 
Zu allererst möchte ich mich ganz herzlich für euer Interesse an dieser sehr komplexen Thematik bedanken und für die Motivation, sie besser zu verstehen! :danke Da es wieder einmal ein langer Text zu werden verspricht, verteile ich vorher zur Erfrischung nochmal eine Runde Kokosnüsse mit Strohhalm an alle, die hier so tapfer mitlesen. ;) Ich versuche mein Anliegen mal ausgehend von der Fragestellung zu beschreiben, die mich bewogen hat, die Aussage von Hendrik – "Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich." – zu hinterfragen. Als ich mich vor einer Weile mit der Debatte um das Birka-Grab Bj.581 befasst habe, kam in mir die Frage auf, wie stark unsere eigenen, verinnerlichten Geschlechter- und Rollenvorstellungen beeinflussen, wie wir Funde und Quellen interpretieren und wie stark unser Bild der mittelalterlichen Gesellschaften davon beeinflusst ist. Seitdem versuche ich herauszufinden, welche Fakten und Schlussfolgerungen bestimmten Ansichten über das Mittelalter zugrunde liegen und in welchem Maß unsere heutigen bzw. von den heutigen Vorstellungen aus rückwärts extrapolierte Geschlechter- und Rollenvorstellungen eingeflossen sind (Erklärung dazu folgt weiter unten). Ein Beispiel dafür, wie die Geschlechter- und Rollenvorstellungen einer Person ihre Interpretationen und Schlussfolgerungen beeinflussen können, sehe ich in der ursprünglichen Klassifizierung des Birka-Grabs: Da das Grab reich mit Waffen bestückt war, wurde gefolgert, dass es sich bei der bestatteten Person um einen Mann und Krieger gehandelt haben muss. Beide Schlussfolgerungen haben sich mittlerweile als bereits vom Ansatz her unhaltbar erwiesen. Vermutlich kam man zu der ursprünglichen Interpretation, weil es für die Archäologen im Jahr 1878 aufgrund ihrer eigenen Geschlechter- und Rollenvorstellungen einfach nicht denkbar war, dass eine Frau mit Waffen bestattet worden sein kann und dass ein mit Waffen bestatteter Mann auch etwas anderes gewesen sein kann als ein Krieger. Für uns sind solche Ideen heutzutage kein Problem mehr. Ich fürchte dennoch, dass uns sehr leicht ähnliche Fehler unterlaufen können. Unsere Geschlechter- und Rollenvorstellungen sind nach wie vor zutiefst von binärem Denken geprägt: Es gibt Mann und Frau – und alles was davon abweicht ist außerhalb der Norm. Diese Denkweise haben wir so sehr verinnerlicht, dass wir uns ihrer normalerweise gar nicht bewusst sind. Wir sehen gewissermaßen alles durch eine "binäre Geschlechter-Brille", ohne überhaupt zu merken, dass wir sie aufhaben. Das wird zum Problem, wenn wir uns mit fremden Kulturen befassen, insbesondere dann, wenn deren Geschlechterordnung nicht aus den gleichen Wurzeln entstanden ist wie die unsrige. Wie ich in Post 1 gezeigt habe, dürfen wir beim Blick auf andere Kulturen nicht davon ausgehen, dass unsere binäre Geschlechterordnung die Norm oder auch nur die wahrscheinlichste Variante ist. Wenn es um unser Bild von mittelalterlichen Geschlechter- und Rollenvorstellungen geht, erscheint es mir oftmals so, als werde versucht, ausgehend von unserer heutigen Denkweise in der Zeit rückwärts zu extrapoliert. Als würde man gleichsam eine Gerade durch 2 bekannte Punkte ziehen – die heutigen Vorstellungen und bspw. die sehr viel strengeren im 19. Jahrhundert – und diese Gerade dann bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Dies halte ich insbesondere dann für problematisch, wenn es um heidnische Kulturen – wie die der keltisch- und germanischstämmigen – geht, die nicht auf der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Tradition basieren. (In diesen beiden Traditionen sehe ich den Ursprung unserer heutigen Geschlechter- und Rollenvorstellungen.) Die Genderforschung kommt hinsichtlich Geschlechterrollen zu folgender Grunderkenntnis: "Der kulturelle Aspekt der Geschlechtsrollen ist sehr breit gefächert. Auch wenn Haupttendenzen erkennbar sind, sind doch fast alle Möglichkeiten der kulturellen Aufgabenteilung irgendwo und irgendwann praktiziert worden." (Quelle: Wikipedia – "Geschlechterrolle")(Mit meinen Beispielen von Kulturen mit 3 oder mehr Geschlechterrollen wollte ich lediglich diese Erkenntnis verdeutlichen.) Das heißt für mich: Wenn ich mich mit einer fremden Kultur befasse, zu der ich keine Informationen hinsichtlich der Ursprünge ihrer Gechlechterordnung habe, dann muss ich zunächst einmal davon ausgehen, dass alles, was es irgendwann und irgendwo schonmal gegeben hat, grundsätzlich infrage kommt und nicht von vorneherein als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden kann. Die Eingrenzung kann erst aufgrund von Funden und Quellen über die jeweilige Kultur und ihre Ursprünge erfolgen. Anders gesagt: genausowenig, wie ich anhand christlicher Traditionen ohne weiteres Rückschlüsse auf die Glaubenswelt früherer, heidnischen Kulturen ziehen kann, darf ich auf Basis dessen, was in unserer Geschlechterordnung als "innerhalb der Norm" gilt Rückschlüsse darauf ziehen, was in einer anderen Kultur als "innerhalb der Norm" gegolten hat. Das schwierige ist, dass wir die Geschlechter- und Rollenvorstellungen unserer Gesellschaft derart selbstverständlich verinnerlicht haben, dass wir meist gar nicht merken, wenn wir sie automatisch auf Gegebenheiten anwenden, bei denen dies zu Fehlschlüssen führen kann. (Und obwohl ich mich jetzt schon eine Weile lang recht intensiv mit der Thematik befasse und langsam zu differenzieren lerne, falle auch ich immer wieder unbewusst in die verinnerlichten Denkmuster zurück. ^^ ) In einem weiteren Beitrag möchte ich noch auf einige Punkte eingehen, bei denen offenbar nach wie vor Missverständnisse vorliegen, und versuchen, diese aufzuklären. Dazu schonmal ganz kurz:
'Geschlechtsrolle' vs. 'Geschlechterrolle'
Damit ist tatsächlich das gleiche gemeint. An der Stelle im Wiki-Artikel war glaube ich nur gemeint, dass beide Begriffe synonym Verwendung finden.
Was mir dazu allerdings noch unklar ist, ist die Rezeption und Akzeptanz dieser Rollen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft.
Auch hier liegt noch ein Missverständnis vor. Ich arbeite gerade noch an einer diesbezüglichen Erläuterung. In Kürze gibt’s also mehr dazu… So weit für den Moment. Ich hoffe, ich konnte mein Anliegen verdeutlichen und auch dass es mir gerade nicht darum geht heutige feministische oder genderqueere Geschlechtervorstellungen auf das Mittelalter anzuwenden. MfG Ilka :bye01
 
Birka Grab 581 - was verraten uns Grabbeigaben? Minute 37 rum. Aber ich denke der ganze Podcast wäre für dich interessant. Ich habs bei Patreon gehört, kann sein, dass es auch bei Youtube veröffentlicht worden ist.
Vielen Dank! Hab's gefunden: https://www.patreon.com/posts/birka-grab-581-25396292 Muss mal schauen, ob ich mich dafür auch mal bei Patreon anmelde. Kannte die Seite noch nicht, sieht aber sehr interessant aus. Leider scheint's den Podcast nicht auf Youtube zu geben. Ich kenne jedoch ein Kaptorga-Video, bei dem es um das gleiche Thema geht: [media]https://m.youtube.com/watch?v=8MO19IGbiJw[/media]
 
Ich versuche mein Anliegen mal ausgehend von der Fragestellung zu beschreiben, die mich bewogen hat, die Aussage von Hendrik – "Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich." – zu hinterfragen.
An diesem Ausgangspunkt der Diskussion war meine Hoffnung, als Antwort einen kleinen wissenschaftlichen Vortrag über die Wikingerkultur und ihre Geschlechterordnung zu bekommen und weshalb man aufgrund von Funden und Quellen die Möglichkeit von Crossdressing bei Männern (darum ging es in dem Textabschnitt) in der damaligen Gesellschaft als sehr unwahrscheinlich einstufen kann. Damit hätte ich einen weiteren Bereich meiner oben genannten Untersuchung (Welche Fakten und Schlussfolgerungen liegen bestimmten Ansichten über das Mittelalter zugrunde und in welchem Maß sind unsere heutigen bzw. von den heutigen Vorstellungen aus rückwärts extrapolierte Geschlechter- und Rollenvorstellungen eingeflossen?) abhaken können. Meine 'Befürchtung' war, eine Antwort und Argumentation aufgrund unserer eigenen binär geprägten Geschlechter- und Rollenvorstellungen zu bekommen, was dann tatsächlich der Fall war. (Absolut nicht böse gemeint! Dieser Fehler unterläuft uns allen vermutlich nur zu leicht.) Aber andererseits ist so nun eine äußerst spannende Diskussion zu ebendieser Problematik entstanden. :thumbsup:
 
Gegenstand der Diskussion ist für mich nicht die Sachfrage selbst - "Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich.", sondern gleichsam die 'Methode' mithilfe der diese Erkenntnis gewonnen wurde und wie aussagekräftige diese 'Methode' ist. Sorry für das "Nachgetröpfel", aber das waren Gedanken, die mir eben beim Frühstück machen kamen und die mir als möglicherweise hilfreich erschienen. ;)
 
:eek:ff1 Funfact am Rande In Schweden ist der Anteil von Vätern, die den Hauptteil der Elternzeit nehmen im europäischen Vergleich besonders hoch... ...etwa eine Folge eines über 1100 Jahre erhaltenen Rollenverständnis ..? :back
Diese Entwicklung hier ist relativ neu; das Rollenverständnis hier war lange sehr konservativ. So gehörte Schweden, das 1921 das Frauenwahlrecht einführte, zu den Nachschlenderern in Europa: Finnland, damals noch russisch, machte 1907 den Anfang, dann folgten Norge 1913, Danmark 1915, Holland und Russland 1917, und die meisten Staaten 1918.Tschechoslowakei 1920, dann erst kamen wir 1921, und noch später Spanien 1931. Zu dem Zeitpunkt gab es hier ein ausgesprochen paternalistisches Menschenbild (folkhemmet mit den Einwohner als Kinder und dem gütigen Landesvater (!) als Führer des Staates, der die Bürger vor Unbill schützt als common sense. Nix mit 1100 Jahre, eher 80. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs begann die Abkehr von Deutschland und in den 60er- 80er Jahren bekamen dann Ansichten zunehmend Gewicht, die eher von Säkularität, Individualismus und schliesslich (das ist die neueste Entwicklung) Feminismus geprägt waren. Dann kamen die 90er, die Zinskrise unter Bildt, die Devalvierung der Krone und unter Persson schliesslich die Demontage grosser Teile des Sozialstaates wegen der hohen Staatsverschuldung ("den som är i skuld är icke fri"). Derzeit ist die hiesige Gesellschaft eine Gesellschaft in der Krise und im Umbruch, das Vertrauen in die eigenen Institutionen niedriger als zuvor, 20% Rechtspopulisten im Reichstag und Regierungen, die deswegen kaum handlungsfähig sind. Niemand weiss, was kommt, aber eine ungebrochene Tradition, was die Sicht auf die Frauen und die Geschlechterrollen betrifft, gibt es nicht und hat es nicht gegeben; in den Landschaftsgesetzen, soweit sie überliefert sind, konnte eine Frau sowohl mit als auch ohne Zustimmung verheiratet werden und wenn ein Mädchen entführt wurde, dann konnte das in bestimmten Teilen des heutigen Nordens einfach dadurch straffrei werden, dass der Entführer bestimmte Summen zahlte. In manchen Landschaftsgesetzen wurde unterschieden, ob die Frau freiwillig mit dem "Entführer" gegangen war oder nicht, aber lange nicht in allen. In Deutschland gibt es so eine romantisierende Haltung zu unserem Land, aber ich kann euch versichern: es ist ein reiches, gut funktionierendes Land, genau wie Deutschland, aber es hat auch seine Probleme, genau wie Deutschland. //M
 
Vielen Dank für den Interessanten Einblick in die schwedische Geschichte der Geschlechterrollen. :)
[...] eine ungebrochene Tradition, was die Sicht auf die Frauen und die Geschlechterrollen betrifft, gibt es nicht und hat es nicht gegeben
Ich gehe davon aus, dass sich von der Wikingerzeit aus gesehen spätestens mit der Christianisierung um die Jahrhundertwende vom 10. zum 11. Jahrhundert die Geschlechterrollen (insbesondere die der Frau) in Skandinavien deutlich verändert haben.
 
@Fifill - Das meiste dazu habe ich bereits in meinen vorherigen Kommentaren ausgeführt, deswegen kopiere ich es als Zusammenfassung einfach noch einmal hierher. Vorab aber noch eine kleine Anmerkung: "Es hat alles schon einmal irgendwann und irgendwo gegeben". Korrekt soweit. Allerdings wehre ich mich vehement dagegen, dies als Argument dafür gelten zu lassen, alles, was es schon mal irgendwann und irgendwo gab, als denkbar für jede neue Kultur anzusehen. Die Römer kannten u.a. so Dinge wie Fußbodenheizung und Aufzüge. Dürften wir deswegen davon ausgehen, dass ein mongolisches Reitrtvolk (vollkommen andere Kultur und Lebensweise) dieses Wissen ebenfalls hatte oder gar nutzte. Bereits die alten Ägypter konnten in gewissem Rahmen chirurgische Eingriffe erfolgreich durchführen. Warum konnte das dann nicht jede andere Kultur ebenso? Vermutlich lautet jetzt die Antwort, dass man 'Wissen' nicht mit 'Geschlechterverständnis' gleich setzen kann. Stimmt vermutlich sogar. Soll auch nur beispielhaft dafür stehen, dass die irgendwo/irgendwann - These so pauschal ist, dass sie sich keinesfalls auf alles andere übertragen lassen kann. Zurück zu 'warum erachte ich Transgender & Co für das frühmittelalterliche Skandinavien für unwahrscheinlich?' Punkt 1) Die geltenden Gesetze verboten es Frauen bei Strafe, Männerkleidung zu tragen oder Waffen zu führen. Damit könnte im Grunde die Diskussion bereits beendet sein. Ja, vielleicht hat es das doch gegeben, dann mit den entsprechenden Konsequenzen für diejenige Person. Fazit: Nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Punkt 2) In meiner strittigen Behauptung fehlt das Wort 'ausgelebt/praktiziert'. Dass es sowas alles gab, kann natürlich sein, das möchte ich nicht komplett bestreiten. Ich halte allerdings das freie Ausleben für unwahrscheinlich. Punkt 3) 1) Existenz - möglicherweise denkbar 2) Existenz ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Akzeptanz 3) 'Norm' ist in der Rezeption fast immer das, was innerhalb einer Kultur prozentual am stärksten vertreten ist 4) Minderheiten bewegen sich außerhalb der Norm bzw. parallel dazu 5) die Gruppenstrukturen des Frühmittelalters förderten Konformität mit der Gruppe 6) Strömungen außerhalb der Gruppennormen konnten (und waren es vermutlich auch) eher unerwünscht sein 7) Ergo: bis zum Nachweis des Gegenteils erachte ich das Ausleben der o.g. Punkte als eher unwahrscheinlich Punkt 4) Siehe mein Beispiel hinsichtlich Homosexualität (steht eine Seite weiter vorne, kopiere ich jetzt nicht wieder komplett hier rein). Kurzform: nur weil ein bestimmtes Verhaltensmuster regelmäßig zu beobachten ist, kann man daraus NICHT auf eine allgemeine Akzeptanz innerhalb der jeweiligen Gesellschaft schließen, und schon gar nicht auf andere Gesellschaften extrapolieren. Ein Muster, was nicht der Mehrheit entspricht, war und ist immer schon in der Wahrnehmung eben KEINE Norm, sondern entweder un-/abnormal, oder bestenfalls parallel zur Norm. Praktiziertes Crossdressing oder Transgender ist in keiner mir bekannten Kultur jemals so prozentual stark in der Bevölkerung verbreitet gewesen, dass es irgendwo als mehrheitliche Norm gegolten hätte. Wenn Dir irgendeine Kultur bekannt ist, bei denen 90% der Menschen als Transgender gelebt haben, lass es mich bitte wissen. Genau das scheinst Du - so zumindest kommt es durchgängig rüber - allerdings immer wieder zu behaupten. 'Transgender gab es immer schon und überall, also können wir davon ausgehen, dass jede Kultur dies auch offen praktiziert haben könnte'. Nein, nein, und nochmals nein. Sofern dieser Punkt wirklich Teil Deiner Grundannahme und damit Basis aller Argumentationen ist, ist das schlichtweg sowas von falsch, dass es falscher schon gar nicht mehr geht. Und dann brauchen wir auch gar nicht mehr weiter zu diskutieren, denn dann macht das alles überhaupt keinen Sinn. Existent IST NICHT gleichzusetzen mit Akzeptanz. Nie und nimmer und nirgends. Zusätzlich sei noch angemerkt, dass der Großteil der schriftlichen Quellen auf den Islandsagas basiert. Die wurden bekanntermaßen allerdings erst deutlich nach der fraglichen Zeitstellung niedergeschrieben. Außerdem beziehen sie sich auf einen regional stark beschränken Raum. Das Verständnis der Menschen etwas weiter östlich könnte beispielsweise schon wieder komplett anders ausgesehen haben. Bereits hier taugt jegliche Verallgemeinerung nur sehr bedingt. So, das war nun meine Argumentationskette. Soweit vereinfacht, dass auch ein Außenstehender jeden Punkt nachvollziehen kann. Nun erkläre mir bitte ganz konkret meine Denkfehler dabei. Ganz besonders bitte in Hinblick darauf, warum Du guten Gewissens (so zumindest mein Eindruck) immer wieder aus einer 'möglichen Existenz' auf 'allgemeine Akzeptanz' schließen kannst. Denn genau das will mir echt nicht in den Kopf rein.
 
Gegenstand der Diskussion ist für mich nicht die Sachfrage selbst - "Crossdressing und/oder Transgender ist für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich.", sondern gleichsam die 'Methode' mithilfe der diese Erkenntnis gewonnen wurde und wie aussagekräftige diese 'Methode' ist.
Diese Methode hat Hendrik hier gerade noch einmal vorgeführt und daran ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ersteinmal nichts auszusetzen. Zwar ohne direkte Quellennachweise, aber geschenkt. Was Du jetzt scheinbar machen möchtest, ist das Ergebnis dieser Argumentation nicht mit schlüssigen Gegenargumenten zu widerlegen, sondern die Methode an sich durch die Annahme auszuhebeln, sie sei ungeeignet, da durch unser zeitgenössisches binäres Geschlechterdenken geprägt. Das geht insofern nicht, als dass Hendrik in dieser Hinsicht gar nicht wertend argumentiert und auch der aktuellen Methodik der Geschichtswissenschaften folgt. Man kann aber nicht die Methode kritisieren, nur weil keine eigenen stichhaltigen Argumente vorhanden sind. Und dein letztes Argument, dass es Menschen, die sich irgendeinem anderen Geschlecht als ihrem biologischen zugehörig fühlen, überall gab, ist weder bestreitbar, noch beweisbar, bis wir dazu wirklich spezifische Quellen finden. Solange wir davon kein explizites Zeugnis haben, werden wir niemals wissen, was einem vergangenen Menschen durch den Kopf ging. Da argumentiert Hendrik aber ebenfalls nachvollziehbar mit der Begrifflichkeit von Existenz und Akzeptanz. Mein Appell ist jetzt: suche dir erst einmal einen wirklich konkreten Gegenstand und stürze dich in die Quellenforschung. :)
 
Danke @Bobbin für die sachliche Bestätigung meiner Gedankenfolge. Als Laie fragt man sich natürlich immer wieder, ob das, was einem selbst logisch und schlüssig erscheint, nicht doch irgendwo einen kompletten Trugschluss enthält. Deswegen freut es mich gerade, dass Du die Argumentationskette als solche formell (inhaltlich lassen wir mal außen vor) für zulässig hältst. Es wäre schön, wenn Ilka nun auch einmal dazu Stellung nehmen würde. Da sind ja nun mittlerweile mehrere Seiten an teilweise ellenlangen Ausführungen und Fragen aufgelaufen, die bislang sämtlich unbeantwortet und unkommentiert im Raum stehen. Finde ich irgendwo auch etwas schade.
 
Diese Methode hat Hendrik hier gerade noch einmal vorgeführt und daran ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ersteinmal nichts auszusetzen. Zwar ohne direkte Quellennachweise, aber geschenkt.
Jain ("geschenkt"): Hendrik argumentiert aufgrund von Annahmen über menschliches Verhalten, die er aus sich selbst heraus als logisch empfindet. Ich kann dem aber Erkenntnisse aus der Genderforschung entgegenhalten, die die Allgemeingültigkeit dieser Annahmen widerlegen.
Was Du jetzt scheinbar machen möchtest, ist das Ergebnis dieser Argumentation nicht mit schlüssigen Gegenargumenten zu widerlegen, sondern die Methode an sich durch die Annahme auszuhebeln, sie sei ungeeignet, da durch unser zeitgenössisches binäres Geschlechterdenken geprägt. Das geht insofern nicht, als dass Hendrik in dieser Hinsicht gar nicht wertend argumentiert und auch der aktuellen Methodik der Geschichtswissenschaften folgt. Man kann aber nicht die Methode kritisieren, nur weil keine eigenen stichhaltigen Argumente vorhanden sind.
Es geht mir ja tatsächlich um die Methode, die ich für problematisch halte, nicht um die inhaltliche Frage. Hendriks Argumentation basiert auf Annahmen, die zutreffen, wenn man unsere heutigen, binären Geschlechtervorstellungen zugrunde legt: Menschen, die weder in die Kategorie Mann, noch in die Kategorie Frau passen, stehen außerhalb der gesellschaftlichen Norm und müssen mit negativen Konsequenzen rechnen. Das ist eine Bewertung aufgrund binärer Geschlechtervorstellungen. In einem Dreigeschlechtermodell stehen solche Menschen nämlich nicht außerhalb der Norm. Somit käme ein Mensch, der aus einer Kultur mit Dreigeschlechtermodell stammt, an der gleichen Stelle zu einer ganz anderen Schlussfolgerung (die nicht unbedingt "richtiger" sein wird). Das Geschlechtermodell, in dem ich Denke, bestimmt also das Ergebnis, zu dem ich komme, wenn ich Hendriks 'Argumentations-Methode' anwende. Da die Erkenntnisse aus der Genderforschung zeigen, dass ein binäres Geschlechtermodell nicht an sich wahrscheinlicher ist als ein Drei- oder Mehrgeschlechtermodell, kann ich nicht von vorneherein auf der Basis des einen oder anderen argumentieren, sondern muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Und dein letztes Argument, dass es Menschen, die sich irgendeinem anderen Geschlecht als ihrem biologischen zugehörig fühlen, überall gab, ist weder bestreitbar, noch beweisbar, bis wir dazu wirklich spezifische Quellen finden.
Quelle siehe u.a. hier: https://m.bpb.de/gesellschaft/gende...elle-alternativen-zur-zweigeschlechterordnung
Mein Appell ist jetzt: suche dir erst einmal einen wirklich konkreten Gegenstand und stürze dich in die Quellenforschung. :)
Das habe ich definitiv vor! Die Diskussion hat sich bloß gerade jetzt ergeben.
 
Es wäre schön, wenn Ilka nun auch einmal dazu Stellung nehmen würde. Da sind ja nun mittlerweile mehrere Seiten an teilweise ellenlangen Ausführungen und Fragen aufgelaufen, die bislang sämtlich unbeantwortet und unkommentiert im Raum stehen. Finde ich irgendwo auch etwas schade.
Bin dabei, bin dabei! Hab heute mal locker 8-10 Stunden dran geschrieben, unklare Punkte nachrecherchiert und bin zur Stunde immernoch dabei. Werde versuchen, zu allen Punkten Stellung zu nehmen, die du angesprochen hast.
 
Als Naturwissenschaftler (Biologie) stehe ich oft genug auf Kriegsfuß mit der "wissenschaftlichen" Argumetation oder Beweisführung anderer Forschungszweige, seien sie sie akademisch oder außerakademisch. Nicht jeder, der sich Gedanken macht oder sich Wissen welcher Art auch immer aneignet, ist damit automatisch ein "Wissenschaftler" Der Unterschied, über den ich mit diesen Nichtnaturwissenschaftlern regelmäßig aneinandergerate, ist die objektive, die faktische Beweis- oder Falsifizierbarkeit. In den Naturwissenschaften ist das vergleichsweise klar, wenn man einigen Modeströmungen in der aktuellen Physik mal absieht. Wenn eine physikalische Theorie besagt, dass ein Backstein fliegt, dann ist das leicht zu überprüfen. Das freilich bewahrte auch die Naturwissenschaften nicht vor allerlei falschen Überzeugungen, die trotzdem jahrhundetelang als "wissenschaftlich erwiesen" galten. Dies hatte allerdings hauptsächlich zwei Gründe: Erstens, dass es schlicht die Methoden noch nicht gab, um die Theorien zu überprüfen Zweitens, und dazu gleich mehr, dass es gesellschaftliche bzw religiöse Zwänge gab, nach denen sich die naturwissenschaftliche Wahrheit gefälligst zu richten hatte. In nicht eindetuig messbaren Bereichen, z.B. der hier wichtigen Sozialwissenschaft, ist die Lage nicht binär (wahr/falsch) sondern eher stufenlos, analog. Gibt es in der Naturwissenschaft ein schwarz und ein weiß, so kommen in den Sozialwissenschaften noch unzähliche Grautöne dazwischen hinzu. Und genau da liegt der Hund begraben. Denn Versuche, soziale Diskussionen mit naturwissenschaftlicher Logik zu betreiten sind genauso wenig zielführend wie der umgekehrte Weg, naturwissenschaftlichen Fragen eine soziokulturelle Denkweise aufzuzwingen. Man kann Geschichte nicht berechnen. Im vorliegenden Falle hier vermeine ich eben dieses Problem zu erkennen. Es werden beide Denk- und damit Argumentationsweisen unzulässig vermischt, weshalb man sich im genannten Kreise dreht. Jede Argumentationsseite gibt sich dadurch, dass sie - ungewollt und unerkannt - falsche Beweisprinzipien verwendet, wiederholt Blößen, die sie angreifbar und somit als Ganzes beim Gegenüber unglaubwürdig machen. Ein Bespiel:
Punkt 1) Die geltenden Gesetze verboten es Frauen bei Strafe, Männerkleidung zu tragen oder Waffen zu führen. Damit könnte im Grunde die Diskussion bereits beendet sein. Ja, vielleicht hat es das doch gegeben, dann mit den entsprechenden Konsequenzen für diejenige Person. Fazit: Nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich.
Stimmt. Nun gehe ich aber mal naturwissenschaftlich an dieses Argument heran: Logische Grundlage: Der Umstand, dass alle Hunde Tiere sind, beweist noch lange nicht, dass alle Tiere Hunde sind. Soweit Konsens? Übertragen auf das Argument von Hendrik: beweist der (für sich offenbar ausreichend erwiesene) Umstand, dass es Frauen verboten war, Männerkleidung zu tragen automatisch, dass es auch Männern verboten war, Frauenkleidung zu tragen? 8o Rein damit wäre also Crossdressing im Geltungsbereich des genannten Gesetzes bestenfalls zur Hälfte widerlegt. Rein biologisch (Hallo, Heimspiel :D ) ist es anzunehmen, dass es alle möglichen sexuellen Varianten, die es heute gibt, auch früher schon gab, mit Ausnahme einiger technisch nicht umsetzbarer (Latex...). Warum? Weil es sich seit Jahrmillionen durch die Evolution zieht. Auch bei Tieren kommen Homosexualität, Bisexualität, Teleiophilie (inklusive der Variante Pädophilie), Sadismus und Masochismus etc vor. Einige sind in antiken Quellen eindeutig erwähnt und heute sind sie ebenfalls bekannt. Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit sind sie von der Natur nicht zwischendurch für ein paar Jahrhunderte stillgelegt worden. Worum es also geht ist nicht die Frage, ob es die Grundvoraussetzungen dafür (hier: Crossdressing) gab, sondern ob es gesellschaftlich anerkannt war. Soweit sind wir ja immerhin in der Diskussion auch schon gekommen. Das ist schon mal weiter, als in vielen anderen Kreisen, wo, weil nicht sein kann was nicht sein soll, selbst die Grundlagen ja schon vehement bestritten werden. (Beispiel Pädophilie: Klassisches Bayernstammtischargument: "Dös macht ka Viech!" Ich, als Biologe: "doch...") Und nun kommt das eigentliche Problem, weshalb über die Jarhunderte die naturwissenschaftliche Wahrheit gegen die gesellschaftlichen Dogmen in der direkten Auseinandersetzung keine Chance hat und hatte und ihre Wahrheiten teils erst nach Jahrhunderten widerwillig akzeptiert werden (in manchen Kreisen auch bis heute nicht): Emotion schlägt Vernunft. Das ist so, weil in Extremsituationen für rationale Überlegungen keine Zeit bleibt und intuitiv-impulsiv gehandelt werden muss. Es ist ein Überbleibsel aus der Verhaltensevolution. Die Amygdala ist einfach entwicklungsgeschichtlich älter als der Präfrontale Kortex. (Ich möchte jetzt nicht auf die Vernetzung und Funktionen der einzelnen Gehirnregionen im Detail eingehen, die natürlich etwas komplexer sind). Aber Wahrnehmungen werden im menschlichen Gehirn zuerst auf emotionale Relevanz geprüft und dann erst dem eigentlichen Bewusstsein zur Entscheidung vorgelegt, also quasi schon vorzensiert. Sich eine rein amoralisch-logische Betrachtungs- und Analysefähigkeit anzugewöhnen ist also nicht einfach. (Beispiel Mathematik / Statistik: 5.000 Unfalltote plus 4.000 Unfalltote sind 9.000 Unfalltote; ob Unfalltote etwas Schönes sind, stand nicht zur Debatte. Die klassische Psycho-Frage "würden Sie einen Menschen töten, um 2 zu retten?" würde ich als Biologe unabhängig von der Gegenfrage, wie realistsich diese Situation nun sei und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie aufzutreten pflegt, kurz, ob diese Frage nicht aufgrund völliger Realitätsferne vollkommen bescheuert sei, vollkommen klar beantworten: "Natürlich nicht, denn es gibt ohnehin schon viel zu viele Menschen auf der Welt." Upps, nein, ich wollte natürlich sagen: "Selbstverständlich, das Ergebnis spricht für sich. 2 : 1, unterm Strich also ein Geretteter.") Nichtnaturwissenschaftlich, aber immer noch losgelöst von sozialen Zwängen betrachtet sähe die Antwort anders aus: "Kommt drauf an, wen ich töten müsste, um wen zu retten." Ich würde, Verzeihung, nicht meine Frau töten, um zwei Leute zu retten, die ich gar nicht kenne. Soziokulturell betrachtet, also unter Berücksichtigung von dem, was ich erwarte, das von mir erwartet wird, sieht die Antwort dann abschließend so aus: "Nein, niemals, denn ich würde nie einen anderen Menschen töten. Das lasse ich dann doch lieber das Schicksal (Gott?) entscheiden." Kurz: Ich gucke lieber weg und mache gar nichts. Nun hat diese Frage natürlich nichts mit der Crossdressing-Frage des Threads zu tun. Warum führe ich sie also trotzdem an? Nuja... Man nenne mir bitte die Antwort von den dreien, die ja allesamt unterschiedlich ausgefallen sind, die nun nachweislich "falsch" ist. Man erkennt, worauf ich hinaus will?
 
Man erkennt, worauf ich hinaus will?
Ich nehme an, nein. :rolleyes: Darob muss ich Euch leider mit mehr meiner verqueren Gedanken quälen: Das Problem bei nichtnaturwissenschaftlichen Problemen ist eben nicht die Faktenlage, sondern die Interpretation derselben. Hier: Irgendein Grabkomplex. Rein rational betrachtet muss man konstatieren: Aha, eine Frau mit Männerkram bestattet. Keine Ahnung warum, ich kenne die Umstände ihres Lebens und ihres Todes nicht, aber offenbar gab es keinen Grund, das zu verstecken. Extrapolationspotential für die damalig Gesamtgesellschaft? Ist bisschen wenig, kann ein absoluter Ausnahmefall sein von vernachlässigbarer Relevanz. Kann freilich auch zeigen, dass es wohl kein Problem war. Beides: nicht zwingend. Diskrepanz zu diversen Gesetzen: §175 (Beischlaf unter Männern) wurde offiziell auch erst 1994 abgeschafft und galt aber in der juristischen Praxis schon lange vorher nicht mehr. Kann hier also evtl. auch der Fall sein. Beweiskraft des Gesetzes damit: nicht zwingend. Fazit: In keiner Variante zwingend. Weder Pro noch Kontra. Jetzt kommt allerdings die Emotion ins Spiel: Da gibt es viele Spielarten: von "Ach wäre es nicht schön, wenn die damals schon [...] und damit bewiesen wäre, dass wir heute auf dem Holzweg sind und die damals schon viel weiter waren als wir?" bis hin zu "da sieht man mal, wie rückständig die waren, gut, dass es heute anders ist". Dazwischen beliebig viele Varianten. Nun ist jeder intuitiv versucht, sich die reinen Fakten so zurechtzuinterpretieren, dass sein Wunschmodell damit bestätigt wird. Das ist in den Nichtnaturwissenshaften auch viel leichter möglich als in den Naturwissenschaften. (Was auch der Grund ist weshalb ich, wie der aufmerksame Leser sicherlich schon bemerkt haben mag, den soziologischen "Wissenschaften" und, noch schlimmer, deren "Facebook-Wissenschaftlern" eher reserviert gegenüberstehe) Da prallen Meinungen, Vorlieben, Abneigungen, umdatierte Erwartungen und Wunschdenken aufeinander, aber selten belastbare Argumente.
 
Grade bei Gesetzen, die etwas unter Strafe verbieten, möchte ich dir widersprechen - Sie beweisen zumindest, dass etwas a. Zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens vorgekommen sein muss b. Es zumindest von der Obrigkeit als unerwünscht eingestuft wurde c. Eine Regelung als wichtig genug erachtet wurde, sie zu einem allgemeingültigen Gesetz zu machen Einzig eine Aussage über die Auftretenshäufigkeit kann nicht getroffen werden - aber wahrscheinlich wird man nicht Zeit damit verschwendet haben, etwas zu regeln, das es tatsächlich nicht gegeben hat. Jedoch sagt das Tragen von Männerkleidung nichts darüber aus, ob die betreffende Frau tatsächlich gekämpft haben wird. Ich finde es auch immer faszinierend, dass Frauen sich häufig als Bogenschützen sehen, wenn sie schon etwas kriegerisches darstellen möchten. Jemand, der einen Kriegsbogen zum vollen Auszug bringt und setzen wir mal eine Art von nötigen Training voraus, wird neben Muskelzuwachs auch Veränderungen in der knöchernen Struktur im gesamten Schulterbereich aufweisen - ebenso ein Schild, der vor dem Körper bewegt werden muss, wird orthopädische Anomalie und Dysbalancen aufweisen, die im Zusammenhang mit der Benutzung stehen. Also sind Waffenfunde in Frauengräbern erst aussagekräftig, wenn der Knochenbau auch Hinweise darauf liefert, dass diese von der bestatteten Person auch tatsächlich benutzt wurden sein könnten... Leider ist mir nicht bekannt, ob solche Untersuchungen bei Frühmittelalterlichen Gräbern gemacht wurden, die mehr aussagen als die Häufigkeit bestimmter Verletzungsmuster im Zusammenhang mit Schlachten. Aber es wäre zumindest ein Ansatz, nach medizinischen Quellen zu forschen, die sich mit typischen Veränderungen derAnatomie von Bestatteten befasst...
 
Weiter geht’s! Zuallererst und zur Beruhigung all jener, die fürchten, das nun bald eine Welle Tutu tragender Wikingermänner auf uns zu rollt (Das Bild krieg ich Leben nicht mehr aus meinem Kopf raus!): :groehl Ich bin nicht der Überzeugung, dass es bei Wikingermännern gesellschaftlich anerkanntes Crossdressing gab. Das habe ich nirgendwo behauptet und auch nicht behaupten wollen. Wer sich weiter darüber aufregen möchte, möge mir bitte zuerst zeigen, wo ich diese Behauptung gemacht habe. :p Was ich getan habe, war zu hinterfragt, auf welcher Grundlage Hendrik zu der Aussage kommt, Transgender/Crossdressing sei für die Gesellschaftsformen des Frühmittelalters sehr unwahrscheinlich. Der Grund für meine Frage war, dass ich generell herauszufinden versuche, an welchen Stellen und inwieweit unser Bild von mittelalterlichen Geschlechterrollen auf Vorstellungen basiert, die eigentlich eine "auf alt getrimmte" Variante unserer heutigen Vorstellungen sind. Wäre als Antwort herausgekommen, dass es aufgrund dieser und jener Funde und Quellen als unwahrscheinlich einzustufen ist, dann wäre der Drops für mich gelutscht gewesen und ich hätte auf die Rückseite eines weiteren Puzzlestücks (aus meinem Bild vom Mittelalter) ein Häkchen gemacht. Statt dessen hat sich aus meiner Frage eine Diskussion darüber entwickelt, ob man mit Blick auf eine unbekannte Kultur gewisse gesellschaftliche Geschlechter- und Rollenmodelle als wahrscheinlicher annehmen darf als andere. Damit dreht sich die Diskussion nun um ein Anliegen, dass mir sehr am Herz liegt, nämlich dafür zu sensibilisieren, dass wir einen methodischen Fehler machen, wenn wir unsere heutigen Geschlechter- und Rollenvorstellungen einfach "auf alt trimmen" und dann in unser Bild vom Mittelalter reinkleben. Zwischenfrage: Versteht eigentlich irgendjemand, was für ein Problem ich darin sehe oder klingt das alles nur in meinem Kopf logisch? (Nein, nicht nur in meinem Kopf. Ich habe einigen Freunden und bekannten meine Gedankengänge zu diesem methodischen Fehler geschildert, um zu prüfen, ob ich mich da womöglich wirklich in was verrannt habe. Klang in deren Kopf aber auch logisch.) Ich muss allerdings gestehen, dass ich unterschätzt habe, wie schwierig diese Problematik zu vermitteln ist und erkenne nun auch, dass sich das Thema "Transgender und Crossdressing bei den Wikingern" für den Einstieg wohl nicht so gut eignet, weil es eine sehr spezielle Thematik innerhalb des methodischen Problems ist. (Grundsätzlich betrifft dieses "Methodik-Problem" aber auch die ganz klassischen Rollen von Mann und Frau und damit indirekt eigentlich jeden Darsteller.) Da wir nun schonmal hier sind, werde ich versuchen, zumindest die offenen Punkte so gut ich kann zu klären. Als nächstes muss ich jedoch einen echt peinlichen Fehler von mir korrigieren, der mir in der Hitze der Debatte unterlaufen ist. X/ Das folgende Zitat bezieht sich zunächst einmal nur auf die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, nicht jedoch auf ein mögliches drittes Geschlecht: "Der kulturelle Aspekt der Geschlechtsrollen ist sehr breit gefächert. Auch wenn Haupttendenzen erkennbar sind, sind doch fast alle Möglichkeiten der kulturellen Aufgabenteilung irgendwo und irgendwann praktiziert worden." Trotzdem kann ich meine Behauptung belegen, dass man unsere heutige binäre Geschlechterordnung nicht als die Norm ansehen kann: "Ethnologische Studien über Gesellschaften, in denen andere Geschlechterordnungen als die Zweigeschlechterordnung von Mann und Frau – beispielsweise in Form von Drei- und Viergeschlechterordnungen oder jenen Geschlechterordnungen, in denen neben den Kategorien Mann und Frau weitere, als alternative Geschlechter bezeichnete Kategorien vorhanden sind – finden sich weltweit: in Nord-, Mittel- und Südamerika, in vielen Teilen Asiens, in Afrika sowie in Polynesien, Melanesien und auch in Teilen Europas. Berichte über alternative Geschlechter finden sich darüber hinaus in den verschiedensten Zeitaltern der Menschheitsgeschichte von der Bronze- bis zur Neuzeit. […] Einige ethnographische Quellen verdeutlichen, dass insbesondere die gewalttätigen Expansionsbestrebungen europäischer Kolonialmächte durch die Kolonialisierung und Missionierung in den letzten 500 Jahren vielerorts Verantwortung für die Auslöschung kultureller Alternativen zu den westlich geprägten Zwei-Geschlechter-Modellen tragen." Quelle: https://m.bpb.de/gesellschaft/gende...elle-alternativen-zur-zweigeschlechterordnung
Deswegen noch einmal ganz zurück zu meinem ersten Kommentar, der ja Auslöser war.Wenn also nun kluge Köpfe heraus gefunden haben, dass es in jeder Kultur und zu jeder Zeit mehr als zwei Geschlechts/Geschlechter-Rollen gegeben haben mag, dann soll das so sein. Was mir dazu allerdings noch unklar ist, ist die Rezeption und Akzeptanz dieser Rollen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft.
Ich sehe, hier gibt es noch etwas Verwirrung. Was die Genderforschung herausgefunden hat, ist, dass alle möglichen Varianten von Geschlechterordnungen vorkommen und grundsätzlich erstmal ähnlich wahrscheinlich sind. Von der jeweilige Geschlechterordnung einer Kultur hängt es nun ab, ob es nur zwei Geschlechter gibt – wie etwa bei uns – oder drei (oder noch mehr) Geschlechter. Menschen, die in das Schema dieses dritten Geschlechts passen und entsprechend der damit verbundenen Geschlechtsrolle auftreten, haben grundsätzlich erstmal einen Platz in der Gesellschaft und werden nicht als "außerhalb der gesellschaftlichen Norm" wahrgenommen. Der Grad der Akzeptanz und das Ansehen eines dritten Geschlechts durch die Gesellschaft kann dann wiederum von Kultur zu Kultur stark variieren und vom allerniedrigsten bis zu allerhöchstem Status reichen. Zur Verdeutlichung hier nun ein Beispiel einer Gesellschaft mit einer Fünfgeschlechterordnung (weil die Erklärung so anschaulich ist): "Die Bugikultur kennt auch fünf verschiedene soziale Geschlechter. Diese fünf Geschlechter gelten als notwendig, um die Welt in Gleichgewicht und Harmonie zu halten. Dazu gehören Makkunrai (feminine Frau), Calabai (weiblicher Mann), Calalai (männliche Frau), Oroané (männlicher Mann), und Bissu (letzteres verkörpert sowohl männliche als auch weibliche Energien (Hermaphrodit), verehrt als Schamane). [...] Alle Geschlechter werden als gegeben und natürlich betrachtet. Der Bissu vereint Aspekte von Frauen und Männern. […] Die königlichen Rituale können nur durch einen Bissu durchgeführt werden, das heißt ein Mensch, der weder Mann noch Frau ist, sondern Tribute von beiden Geschlechtern besitzt. Nur ein Bissu vermag Mittler zwischen Menschen und Göttern zu sein." Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bugis#Traditionelle_Kultur Das dritte Geschlecht in der Thailändischen Kultur – Kathoey – wird hingegen aus buddhistischer Sicht als Folge von 'schlechtem Karma' betrachtet: "Nach der Karmalehre haben Kathoey ihre Andersartigkeit infolge ihrer Handlungen in früheren Leben. Ihr Verhalten soll ihnen nicht vorgeworfen werden, da es ihnen eben bestimmt ist, so zu leben. Sie sollen eher bedauert als verspottet werden." Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kathoey Siehe außerdem: https://m.bpb.de/gesellschaft/gende...elle-alternativen-zur-zweigeschlechterordnung
Auch wenn Transgender/Transsexualität/Crossdressing/Rollentausch/Rollenwechsel im Frühmittelalterlichen Nordeuropa als denkbar gelten kann, sagt dies - erst einmal - noch nichts darüber aus, ob die Gesellschaft deren Ausleben akzeptiert, gefördert, oder gar gebannt hat.
Falls es in der Geschlechterordnung der Wikingerkultur ein drittes Geschlecht gegeben haben sollte, bedeutet dies quasi automatisch, dass es nicht gebannt wurde, weil es Teil der Gesellschaftsordnung war und damit innerhalb der gesellschaftlichen Norm lag. Über den Status und das Ansehen eines hypothetischen dritten Geschlechts können wir tatsächlich erstmal keine Aussage machen und müssen alle Möglichkeiten – von gerade so toleriert bis hoch geschätzt – in Erwägung ziehen. Der Kern meines Anliegens in dieser Diskussion ist, zu verdeutlichen, dass wir angesichts der Erkenntnisse aus der Genderforschung keine Möglichkeit von vorneherein als unwahrscheinlich ausschließen dürfen. Nur aufgrund von Erkenntnissen aus Funden und Quellen dürfen wir unser Bild der wikingerzeitlichen Geschlechterordnung zusammensetzen und anhand dessen dann z.B. zu der Feststellung kommen, dass nichts auf Transfrauen* als Teil der Wikingerkultur hindeutet. (*biologisch männliche Personen, die sich als Frau fühlen, so kleiden und verhalten) Noch ein Wort dazu, wie ein drittes Geschlecht in einer hypothetischen heidnischen Kultur des Frühmittelalters ausgesehen haben könnte und dass es nicht gleichbedeutend damit ist, dass nun Menschen aller Geschlechtsvarianten jenseits von Mann und Frau ihre Neigungen frei ausleben können: In Anlehnung an entsprechende Rollen in verschiedenen Kulturen mit Dreigeschlechtermodell, könnte es z.B. eine Priesterrolle gegeben haben, die nur von transsexuellen Männern ausgeübt werden konnte, die sich als Frau fühlen, verhalten und kleiden. Das Aufgabenspektrum der Person wäre dann wahrscheinlich durch die Priesterrolle vorgegeben. So ein drittes Geschlecht kann also auch einen eher engen Rahmen bilden, innerhalb dessen die betreffenden Personen ihre Neigung zumindest bis zu einem gewissen Grad innerhalb der gesellschaftlichen Norm ausleben können. Break wegen maximaler Zeichenzahl, geht gleich weiter
 
-------------------- Zitat von @Hendrik1975 1) Existenz - möglicherweise denkbar 2) Existenz ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Akzeptanz 3) 'Norm' ist in der Rezeption fast immer das, was innerhalb einer Kultur prozentual am stärksten vertreten ist 4) Minderheiten bewegen sich außerhalb der Norm bzw. parallel dazu 5) die Gruppenstrukturen des Frühmittelalters förderten Konformität mit der Gruppe 6) Strömungen außerhalb der Gruppennormen konnten (und waren es vermutlich auch) eher unerwünscht sein 7) Ergo: bis zum Nachweis des Gegenteils erachte ich das Ausleben der o.g. Punkte als eher unwahrscheinlich -------------------- Zu 1) und 2): Da sind wir noch zusammen Zu 3) und 4) Ob Transgenderpersonen außerhalb der gesellschaftlichen Norm gestanden haben, hängt wesentliche von der Geschlechterordnung der jeweiligen Kultur ab. In einem Dreigeschlechtermodell können Transgenderpersonen durchaus ganz selbstverständlich dazugehören und sich innerhalb der Norm befinden. Hinsichtlich der Verbreitung solcher Mehrgeschlechterordnungen kommt die Genderforschung zu der schon weiter oben aufgeführten Erkenntnis: "Ethnologische Studien über Gesellschaften, in denen andere Geschlechterordnungen als die Zweigeschlechterordnung von Mann und Frau – beispielsweise in Form von Drei- und Viergeschlechterordnungen oder jenen Geschlechterordnungen, in denen neben den Kategorien Mann und Frau weitere, als alternative Geschlechter bezeichnete Kategorien vorhanden sind – finden sich weltweit: in Nord-, Mittel- und Südamerika, in vielen Teilen Asiens, in Afrika sowie in Polynesien, Melanesien und auch in Teilen Europas. Berichte über alternative Geschlechter finden sich darüber hinaus in den verschiedensten Zeitaltern der Menschheitsgeschichte von der Bronze- bis zur Neuzeit." Quelle: https://m.bpb.de/gesellschaft/gende...elle-alternativen-zur-zweigeschlechterordnung Es besteht also m.E. eine durchaus reelle und nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass eine fremde Kultur eine Geschlechternorm hat, die Transgenderpersonen einen Platz innerhalb der Gesellschaft bietet. Zu 5) und 6): Dem stimme ich zu 7) Das Ergebnis, zu dem man in diesem letzten Schritt kommt, hängt ganz wesentlich davon ab, ob es in der Geschlechterordnung der betrachteten Kultur einen Platz für Transgenderpersonen gibt oder nicht. Handelt es sich z.B. um eine Dreigeschlechterordnung, bei der das dritte Geschlecht Transgenderpersonen und Crossdressing beinhaltet, so befinden sich diese innerhalb der gesellschaftlichen Norm. Handelt es sich um eine binäre Geschlechterordnung wie die unsrige, dann gebe ich deiner Argumentation in allen Punkten recht. Und nun noch hierzu: -------------------- Zitat von @Hendrik1975 PS: Die Schildmaiden widersprechen ein wenig den Gesetzen, die Frauen das Tragen von Männerkleidung sowie das Führen von Waffen bei Strafe verboten. Welche Sichtweise stimmt nun? -------------------- Das ist eine gute Frage, die ich auch schon länger auf dem Schirm habe. Zum einen wird man sich den Geltungsbereich und Zeitraum der Gesetze anschauen müssen. Tatsächlich könnte aber auch gerade ein 3. Geschlecht, welches für das Phänomen der Schildmaid ja tatsächlich diskutiert wird, diesen Widerspruch auflösen. Nämlich dann, wenn eine Frau, die Schildmaid ist, von der Gesellschaft nicht mehr als Frau, sondern als ein drittes Geschlecht wahrgenommen wird und damit nicht von dem Gesetz betroffen wäre. Das ist im Moment aber reine Spekulation. Puh, war das alles schwierig auseinanderzudröseln. Hab heute jede freie Minute an diesem Diskussionsbeitrag gearbeitet (und mit dem Editor gekämpft
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). Nun raus damit – und ab ins Bett! Mit friedlichem Schnarchen Ilka
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PS: Weitere Fragen und offene Punkte im Thread nehm ich mir ab morgen wieder vor, da kommt also noch was dazu…
 
In nicht eindetuig messbaren Bereichen, z.B. der hier wichtigen Sozialwissenschaft, ist die Lage nicht binär (wahr/falsch) sondern eher stufenlos, analog. Gibt es in der Naturwissenschaft ein schwarz und ein weiß, so kommen in den Sozialwissenschaften noch unzähliche Grautöne dazwischen hinzu. Und genau da liegt der Hund begraben. Denn Versuche, soziale Diskussionen mit naturwissenschaftlicher Logik zu betreiten sind genauso wenig zielführend wie der umgekehrte Weg, naturwissenschaftlichen Fragen eine soziokulturelle Denkweise aufzuzwingen. [...] Man nenne mir bitte die Antwort von den dreien, die ja allesamt unterschiedlich ausgefallen sind, die nun nachweislich "falsch" ist. Man erkennt, worauf ich hinaus will?
Doch ich ahne es und begreife, dass das tatsächlich ein Problem in unserer Diskussion sein könnte... Ich komme ja aus dem naturwissenschaftlichen Bereich (Elektroingenieur*in) und bin in sofern fachlich nicht in meinem Element. Da werd ich mal drüber schlafenzzzZZZzzzZZZzzzz.... :sleeping:
 
Wenn du das Geschlechtsmodell einer anderen Kultur zugrundelegst, dann schau mal, ob es in der zugehörigen Götterwelt auch so zu finden ist. Dann suche nach Göttern der Kultur, die du untersuchen möchtest und finden sich dort mehr als zwei Geschlechter, hast du einen Anhaltspunkt, dass sich dies auch so in der zu untersuchenden Kultur widergespiegelt haben könnte...
 

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