Was man aber auch bedenken sollte, ist das Bevölkerungswachstum - 100 Jahre am Ende des Mittelalters schlagen grob geschätzt 4mal so stark durch wie 100 Jahre am Anfang, wenn wir das in "Mannjahren" rechnen.
Das ist sicherlich historisch gesehen richtig, aber in Bezug auf die Wahl der Darstellung wohl eher nicht relevant. Die Epoche ist interessant, nicht die damaligen Bevölkerungszahlen. Zumindest hat mir noch nie jemand auf die Frage, weshalb ihn das 15. Jahrhundert so fasziniert, geantwortet: "Oh, um ehrlich zu sein, ich stelle diese Zeit dar, weil da vier mal mehr Menschen in Europa lebten als im Jahre 850." In Mannjahren zu rechnen führt uns also wohl nicht zum Verständnis für das Phänomen, weshalb heidnisch geprägte Darstellungen (falls die eingangs beschriebene Beobachtung tatsächlich zutreffen sollte, was ich ja nicht ausschließen möchte. Dass ich sie so nicht gemacht habe, muss ja nicht automatisch heißen, dass sie nicht zutreffen kann) tatsächlich überporportional vertreten sein mögen. Wenn wir die Rechnung mit den Mannjahren konsequent weiterverfolgen, dann beweisen wir gleichzeitig, dass sie für die LH nicht zutrifft. Denn dann müssten ja wiederum konsequent mehr Napoleoner rumlaufen als Ritter und mehr Leute 1920 als Epoche wählen als etwa 1450. Und wir müssten überschwemmt sein mit Reenactmenthippies und statt Feldschlachten gäbe es Studentendemos mit Wasserwerfern. Nein, in Bezug auf die Motive, wegen derer jemand die Epoche und die Darstellung wählt, die er wählt, ist die Bevölkerungszahl definitiv völlig irrelevant. Das ist schlicht die individuelle Faszination einer Epoche. Und damit wären wir beim nächsten Punkt meiner Argumentation: Wer Lust hat auf ein, nennen wir es mal betont aktives und extrovertiertes christliches Leben, der macht nicht LH, sondern geht zur Heilsarmee. Ich will Ritter sein, dass ist es doch, was die meisten Leute zu ihrer Darstellung bingt, oder? Nicht regelmäßig beten. Wenn ich das will, gehe ich in die Kirche und nicht auf eine Wiese unter lauter Touristen. Selbst wenn ich also eine Darstellung wähle, die in einer betont christlichen Epoche anzusiedeln ist, dann in aller Regel nicht wegen dieser betonten Christlichkeit, sondern aus anderen Gründen. Selbst wenn zum Alltag meines Alter Ego damals ein intensiveres Ausleben meines Glaubens dazugehört haben mag, das steht für mich nicht im Vordergrund meiner Darstellung. Und das ist ja auch so falsch nicht, denn der Fokus eines Schreiners etwa dürfte in der Tat das Schreinern gewesen sein, nicht der Rosenkranz. Ich bin mir fast sicher, dass wir, nicht zuletzt durch den klerikalen Anteil und der daraus resultierenden Färbung der Überlieferung, den Aktivismus, die Intensität der damaligen Alltagsreligiösität überschätzen, gleichwie sie sicherlich deutlich größer war als heute. Aber sie spielte ebenso sicherlich nicht die erste Geige im Leben der normalen Menschen. Wenn ich also eine christliche Darstellung wähle, und, wie Du ja durchaus dargelegt hast, rein statistisch müssten für Europa die christlichen Darstellungen überwiegen (selbst wenn wir das MA ganz klassisch mit 500 AD beginnen lassen), dann lebe ich als Darsteller diesen Teil meines Alter Ego wohl eher nicht mit besonderer Hingabe aus, unabhängig davon, wie mein historisches Vorbild das vielleicht gemacht hätte. Ein Kreuz als Anhänger, vielleicht sogar ein Rosenkranz am Gürtel, das sollte reichen. Wobei ich zu bedenken geben möchte, dass der Schreiner, den als Beispiel zu nehmen ich vorhin beliebte, wohl üblicherweise keinen Rosenkranz mit sich herumgetragen haben dürfte, schon gar nicht bei der Arbeit. Ein Bauer oder Korbflechter, der nun kein auffälliges Merkmal seiner christlichen Gesinnung zur Schau stellt - ist das wirklich unhistorisch? Ich habe, wie man sieht, ein zweifaches Problem: 1. Sehe ich schon auf der Ebene der historischen Korrektheit Zweifel angebracht an exzessiver, auffälliger Christlichkeit. 2. Spielt dieser Aspekt bei den meisten Darstellern eine eher untergeordnete Rolle, selbst wenn sie in einer christlichen Epoche angesiedelt sind. Nun gibt es natürlich Sonderfälle, bei denen eine gewisse auffällige Glaubensorientierung schon dazugehört, insbesondere bei christlichen Ritterorden etcetera. Wer sich für eine solche Darstellung bewusst entscheidet, der sollte selbstredend mit dem geistlichen Aspekt seiner Darstelluntg vertraut sein und sich auch nicht scheuen, diesen Teil der Darstellung mit darzustellen. Aber - und das ist das große Aber - soweit ich das sehe, machen das die meisten derartigen Darsteller ja auch. 16-jährige Jungs, die als Besucher im weißen Tischtuch mit rotem Filzkreuz darauf kommen und sich begeistert Templer nennen, filtere ich mal raus... ...was zu Punkt drei meiner Überlegungen führt: Wir reden von Darstellungen, nicht von Träumen. Im Sinne des Eingangsposts fiele es mir nicht ein, jeden irgendwie gewandeten Menschen, der auf einem Mittelaltermarkt zu sehen ist, mit in die Beobachtung einzubeziehen. Ich beziehe in meine Einschätzung der Qualität der deutschen Autofahrer auch nicht die Jungs auf den Bobbycars mit ein. Ich denke, da müssen wir schon realistisch bleiben und sorgfältig differenzieren. Wenn wir jeden Besucher, jeden Liverollenspieler, jedes Ritterknäblein, kurz: jeden, der nicht wie ein normaler Mensch des 21 Jahrhunderts gekleidet ist, mit einbeziehen, dann kommen wir natürlich zu schrägen Ergebnissen. Viele Leute wollen einfach mal anders sein, irgendwie ihre Sehnsüchte ausleben. Schaut Euch beim nächsten Markt mal aufmerksam im Publikum um: Hagere Jünglinge mit Nickelbrille, die sich endlich mal, schwertbehangen, stark fühlen können und einen Nachmittag lang groß und ehrfurchtgebietend sein dürfen. Verlebte Damen, die sich, mit Jungfernkränzchen bedacht, in Kleidern, die sie eigentlich besser nicht mehr tragen sollten, wieder jung träumen. Ältere Männer, die als Ritter oder Wikinger mal endlich das spielen können, was sie sich als Kind nie leisten konnten. Und, und und... Die wollen viel, aber sicher nicht den christlichen Aspekt ausleben. Da sind andere Dinge wichtiger. Und wisst Ihr was: Ich gönne es ihnen. Und mit diesen Träumen kommen wir auch zum letzten Teil und der eigentlichen Antwort auf die ursrprünglich gestellte Frage, soweit ich da eine Vermutung äußern darf: Stichwort träumen: Warum machen viele, das, was sie da machen? Ich wage zu behaupten, dass nicht nur begeisterte Besucher ein wenig ihre Träume erfüllen möchten, sondern zu einem gewissen Teil auch unsereiner. Bevor jetzt der reflexartige Aufschrei kommt: Hand auf's Herz. Wie sieht's aus?
Gut, ich für meinen Teil bin vielleicht ein Sonderfall, weil zum Teil nicht ich, sondern der bayrische Lehrplan die Wahl der Darstellung für mich getroffen hat (siehe mein Profil), aber trotzdem: Wäre da nicht das Herz mit dieser Wahl zufrieden gewesen, wäre das Hobby nicht geblieben. Ich oute mich: Ja, ich gefalle mir in meiner Klamotte und ja, ich mag das (Traum-)Bild vom starken Panzerreiter auf dem stolzen Ross... Das ist zwar nicht der Hauptgrund, warum ich das Hobby mache, aber die gelegentliche Existenz dieser Träume zu verleugnen, wäre schlicht gelogen. :whistling: Jetzt kommt der Gedanke: Wenn jemand christlich geprägt ist, muss er sich dann in eine Darstellung flüchten? Braucht er etwas, um seinen Traum auszuleben? Nein, denn wie schon von Anderen erwähnt, leben wir ja in einer christlichen Kultur.
Diesen Teil meines Traums kann ich im Alltag ausleben, wenn ich möchte. Wenn ich aber nun, nennen wir es mal: weltanschaulich alternativ geprägt bin, dann übt eine gezielt heidnische Darstellung schon einen signifikanten Reiz aus. Rein statistisch überwiegen, soweit ich das beobachte, die Darstellungen aus christlichen Epochen. Im Zusammenhang damit verweise ich auf die Umfrage, die
hier mal gemacht wurde. (Ich merke an, dass "FrühMi" nicht automatisch heißt: "heidnisch") Wenn jemand zu dem Endruck gelangt, das "Heidnische" würde eine überproportional große Rolle in den Darstellungen auf Märkten ("Märkte", nicht "Museumsveranstaltungen", das nur nebenbei) spielen, dann dürfte das weniger der quantitativen Glaubensverteilung geschuldet sein, als vielmehr der qualitativen. Soll heißen: Die Christen hängen das überwiegend nicht an die große Glocke, die Nichtchristen neigen dagegen dazu, das etwas auffälliger auszuleben. Kurz: Dasselbe Problem wie überall in der Gesellschaft. Nicht die stille Mehrheit wird wahrgenommen, sondern die laute Minderheit, die dann fälschlicherweise für die Mehrheit gehalten wird.